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Geschichte

Untersuchung zum gesellschaftlichen Einfluss der „River’s of Blood“-Rede von Enoch Powell

Enoch Powell war ein brillanter Redner, ein Autodidakt, aber auch ein Verfechter des alten Empires. In einer Rede, die enorme Sprengkraft hatte und diese schlussendlich auch entfaltete, verweist er auf eine antike römische Rede von Vergil. In dieser Arbeit habe ich die gesellschaftlichen Auswirkungen untersucht, die durch diese Rede ausgelöst wurden.Im heutigen Kontext von immer größeren Flüchtlingsströmen eine Beurteilung, die leider immer noch sehr aktuell ist.

1. Einleitung und Vorgehensweise

Enoch Powell hielt am 20.April 1968 in Birmingham eine Rede, die von Seiten der Medien schnell den Namen Rivers of Blood bekam. In dieser Rede befürchtete Powell in Anlehnung an Vergil, dass der Fluss Tiber wieder mit Strömen voller Blut bedeckt sein könnte, wenn die Einwanderung vor allem farbiger Menschen weitergehe.

Durch diese und andere Äußerungen hat Powell eine Resonanz hervorgerufen, wie sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges seines Gleichen sucht. Medien, Gesellschaft und Politiker sahen Powells Rede entweder als Aufruf zum Rassismus und Rassenhass oder als Ausdruck echter und tatsächlicher Gegebenheiten. Was waren also die Konsequenzen von Powells Rede? Welche Auswirkungen haben sich in der Politik und in der Gesellschaft entwickelt? Deshalb soll mit dieser Arbeit weder erläutert werden, ob Enoch Powell die Wahlen von 1970 für Heath gewonnen hat, noch ob er ein Rassist oder Faschist war, da solche Analysen unmöglich verlässliche Aussagen hervorbringen und keinen wichtigen Erkenntnisgewinn erzielen würde. Es ist vielmehr von Bedeutung, ob es Powell gelungen ist, Einfluss auf Politik und/oder Gesellschaft auszuüben. Dazu werden in dieser Arbeit die Wahlprogramme der beiden großen Parteien, Labour und Konservative, aus den Wahljahren 1966 und 1970 verglichen. Des Weiteren werden die Gesetze gegen Einwanderung von 1968 und 1971 sowie die Political and Economical Planning (PEP) Reporte gegenüber gestellt. Während erster Teil sich auf die Folgen im politischen Bereich konzentriert, wird der zweite Abschnitt die Gesellschaft im Auge haben. Dabei werden unterschiedliche Umfragen zur Parteiwahrnehmung herangezogen und Reaktionen aus der weißen wie farbigen Bevölkerungsschicht dargestellt. Zeitungsartikel der Times sollen dabei sinnbildlich die Rolle der Medien repräsentieren und die einzelnen Unterpunkte unterfüttern.

2. Zeitliche Einordnung und Besonderheiten der britischen Situation nach 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste Großbritannien erkennen, dass es seinen Status als Weltmacht und koloniale Eroberernation endgültig verloren hatte. Jedoch stießen patriotische Haltungen mit dieser Realität zusammen und sorgten in der Gesellschaft für Spannungen. So kollidierten der während des Zweiten Weltkrieges propagierte Patriotismus mit der Angst, dass die geschlossene insulare britische Gesellschaft durch Einwanderung unterlaufen werden könnte. Mit den afro-amerikanischen GIs, die ab 1942 in den englischen Städten stationiert waren, wurden erste Diskussionen geführt, wie man mit den verschiedenen Herkünften (races) umgehen sollte.

Dieses Gefühl der Veränderung und Fremdartigkeit dehnte sich auch auf den Verlust Indiens aus, da der Verzicht des britischen Empire auf Indien zeitgleich seine Auflösung einleitete. Indien ist in jeder Betrachtung von Dekolonialisierung ein Schlüsselfall, da es nicht nur das größte, sondern auch das erste Land nach 1945 war, welches unabhängig wurde. Für das Vereinigte Königreich bedeutete dies darüber hinaus, dass es sich in Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten befand. Dies wird wiederum deutlich, wenn man sich die Suezkrise Mitte der 50er Jahre anschaut. Obwohl eine militärisch gelungene Aktion den Suezkanal wieder in englisch-französische Hand führte, erzwang die amerikanische Administration die Übergabe an Ägypten, um Spannungen mit der Sowjetunion zu vermeiden.

Mit diesen Voraussetzungen stellt sich die Frage, wie sich dies auf die Konzeptionen der Staatenzugehörigkeit und Definition des Englischen oder Britischen ausgewirkt hat. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war citizenship als Konzept unter der intellektuellen Elite weit verbreitet und unterstützte die Rolle des Patriotismus als Erhalter des höheren Ideals von citizenship. Die zeitgenössische Elite nahm dabei aber eine homogene Nationalkultur als Basis für eine erfolgreiche Staatsangehörigkeit an, sowohl lokal als auch international.

Die patriotische Identifikation mit der englischen nationalen Identität (nationhood) verdient eine nähere Analyse. Das Konzept der englischen race war nicht zwangsläufig rassistisch und der Nährboden für Intoleranz. In der Nachkriegszeit und im Laufe des Wirtschaftsaufschwungs ging der Diskurs zu citizenship in gemeinsame Werte über, die weniger auf „rassische“ Aspekte blickten. So sagte T.H. Marshall 1950, dass citizenship nur das gleiche Recht auf diverse Rechte repräsentiere, welches durch die Rechtsprechung abgesichert sei .

Trotz der anfänglichen Unwichtigkeit der Herkunft oder race stellte sich im Laufe der 1950er Jahre eine Skepsis ein, ob Einwanderung bestimmter ethnischer Gruppen nicht zu Problemen führen könnte. Im Vergleich zu den europäischen Nachbarn scheint dies durchaus gerechtfertigt, da Britannien noch mehr Einwanderer über die Verflechtungen des British Commonwealth erreichten . Der British Nationality Act von 1948 legte fest, dass jeder, der nicht die britische Staatsbürgerschaft hatte oder ein Commonwealth-Bürger war, bei der Einreise kontrolliert wurde. Dieser Beschluss erweiterte somit die Staatsangehörigkeit um das Vereinigte Königreich und deren Kolonien, verringerte aber die Bedeutung allgemeiner und übergreifender Werte und Rechte . Auch wenn um 1950 die Zahl der nicht-weißen Einwanderer noch gering war, so schien aber der Status als britischer Bürger unkontrollierbar zu sein und erzeugte Fragen über race relations in Britannien .

Jene Einwanderer arbeiteten hauptsächlich in Branchen, die unattraktiv, ungesund und schlecht bezahlt waren und ungern von Einheimischen aufgesucht wurden . Andererseits herrschte oft der Glaube bei den Arbeitsmigranten vor, dass es sich nur um eine temporäre Auswanderung handeln würde. Die Rückkehr war eingeplant und der Assimilationswille sowie die Bereitschaft dazu waren gering. Die Empfängerstaaten  ihrerseits erwarteten „Gäste“ und keine Einwanderer und unternahmen nicht viel, um die Menschen in irgendeiner Form zu integrieren. Mit der Zeit stellte sich eine Reihe von unbeabsichtigten und unerwarteten Vorzügen für die Einwanderer ein, während sie die europäischen Wohlfahrtsstaaten mit aufbauten. So wurde es ihnen ermöglicht, ihre Familien nachzuholen und einen ständigen Wohnsitz zu erhalten . Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen Einwanderer also eine wichtige Rolle in den Ökonomien Westeuropas. Sie füllten die Lücke im Niedriglohnsektor, die aufgrund des Wirtschaftswachstums und der Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitern entstand .

Allerdings waren die Einwanderer – nicht nur in Großbritannien – keine homogene Gruppe und wurden dementsprechend auch unterschiedlich wahrgenommen. Neuankömmlinge aus Indien und der Karibik kamen in großen Zahlen und wurden auch aufgrund ihrer Hautfarbe zur Hauptaufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Aber auch Iren und Gruppen anderer Europäer wanderten in ebenfalls großen Zahlen ein. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg übertrafen die Osteuropäer beispielsweise sogar die Zahlen der Einwanderer aus der Karibik. Diese Zahlen wurden vom britischen Staat kontrolliert und gesteuert, wobei dies nicht auf die Iren, karibischen Einwanderer und Asiaten aus dem indischen Subkontinent zutrifft. Farbige und asiatische Einwanderer wurden eine lange Zeit derart betrachtet, dass deren Einwanderung keine großen Auswirkungen auf die britische Gesellschaft nehmen würde. Gleichzeitig wurden europäische Einwanderer als Arbeitskräfte aber bevorzugt, was andeutet, dass die Einwanderung Dunkelhäutiger und von Asiaten weniger erstrebens- und unterstützenswert war. Parallel stieg die Einwanderung aus der Karibik und dem indischen Subkontinent an, so dass schwarze und asiatische Gemeinschaften sichtbarer wurden und das empfundene Dilemma entstand, wie man die Einwanderung aus diesen Regionen reglementieren könnte. Bis 1962 hatten Einwanderer aus der Karibik und Asien das Recht, in Britannien ohne Kontrollen einzuwandern .

Diesem Druck sah sich die konservative MacMillan-Regierung (1957-63) ausgeliefert und schränkte die Einreisebestimmungen für Commonwealth-Bürger ein. Im Commonwealth Immigrants Act von 1962 erlaubte die Regierung die Einreise nur noch für Ausländer, die einen der zahlenmäßig limitierten Voucher erhalten hatten. Im Laufe der Verabschiedung in 1962 jedoch wurde die Einreisewelle übertroffen, da befürchtet wurde, aufgrund der neuen Regelung später nicht mehr einwandern zu können. Das Voucher-System für Arbeitserlaubnisse konnte jedoch missbraucht werden, so dass bereits eingewanderte Personen die Voucher für andere einreisewillige Ausländer nutzten, um die Einreise nach Großbritannien zu ermöglichen .

Allerdings begünstigten politische Institutionen auch Einwanderung. Ein Beispiel sind rekrutierte Frauen, die für den National Health Service arbeiteten und zumeist nicht aus Großbritannien stammten.

Labour wollte ihrerseits von 1964-70 die ineffektiven Einreisekontrollen verbessern und die Diskriminierung gegen bereits ansässige Einwanderer eindämmen – eine Diskriminierung, die auf Vorurteile gegen die nationalen und ethnischen Herkünfte der Einwanderer basierte. Dennoch stand diesem eine konservative Gruppe – der Monday Club – entgegen, die bis in die 70er Jahre und teilweise darüber hinaus Einfluss auf Politik und Gesellschaft ausübte. Einer seiner Vorläufer war Lord Salisbury, der Einwanderung als ein großes Problem bezeichnete, welches im Laufe der Zeit sein „hässliches Gesicht“ zeigen werde. Damit zeigte sich die Ansiedlung bedeutender Gemeinschaften von nicht-weißen Einwanderern, die für diese Gruppe nicht die gleichen kulturellen Werte wie die Gemeinschaft teilten, als eine langzeitige Bedrohung für die Definition für englishness .

Rahmenbedingungen, die man auch nicht ausblenden darf, sind Vorkommnisse in Verbindung mit dem Thema Einwanderung in 1967 und 1968. Dazu gehören Rassenunruhen in den USA vor und nach der Ermordung Martin Luther Kings im April 1968, Debatten über das Race Relation Bill in Westminster, die Kontroverse über Sikh Busfahrer in Enoch Powells Gemeinde Wolverhampton und Powells politischer Machtkampf gegen Ted Heath.

3. Kennzeichen und Grenzen der Wirkmächtigkeit

Was heute unter Vielfalt (diversity) verstanden wird, war in den Augen von Enoch Powell eine Gefahr für Demokratie und musste durch eine homogene britische Gesellschaft verhindert werden . Zentral in Powells Gedanken waren patriotische Traditionen, die nationhood in Großbritannien untermauerten. Powell stellte sich insofern an die Seite der öffentlichen Meinung, weil er Staatsangehörigkeit durch Nationalität und Patriotismus definierte. Die Vermittlung von Staatsangehörigkeit von sub-nationalen Identitäten würde die allgemeine Natur von Staatsangehörigkeit innerhalb von Gesellschaften untergraben und eine Kommunalisierung wie in Indien erzeugen, so Powell. Deshalb wollte er sich auch stärker vom Commonwealth loslösen, als es einige Zeitgenossen formulierten. Aus romantischem und nicht realistischem Denken habe man angenommen, man könne keine Einwanderungskontrollen für Commonwealth-Bürger einführen und damit ein Problem erzeugt, welches Großbritannien nun gefährde . Um dagegen vorzugehen, sprach sich Powell für einen Einwanderungsstopp und für aktive Zurückwanderungsmaßnahmen (repatriation) aus .

Im Januar 2003 wurde Powells persönliches Archiv geöffnet. Darin lassen sich neue Erkenntnisse zu Powells Gedanken über Einwanderung und vor allem zu den Gründen seiner Rede von 1968 ziehen. Historiker meinten, Powells primäre Sorge war eine post-imperiales Verlangen, alle Verbindungen mit dem Neuen Commonwealth aufzubrechen. Jedoch zeigen Briefe aus seiner Zeit nach Indien 1943-46, dass seine ablehnende Haltungen schon davor erkennbar war. Diese Ablehnung rührte von einer anscheinend liberalen Hingabe zu nationaler Homogenität als eine Voraussetzung für Demokratie. Sein Beispiel deutet an, dass die britische Haltung gegenüber Masseneinwanderung mehr mit der Erfahrung des Empires zu tun hat, als mit Nachkriegsveränderungen in nationaler Identität.

3.1. Auswirkung auf die Politik

3.1.1. Wahlprogramme von Labour und den Konservativen in den Jahren 1966 und 1970

Auch wenn es minimale Unterschiede sein mögen, so sind in den Wahljahren 1966 und 1970 nicht nur Unterschiede zwischen den Parteien erkennbar, sondern auch innerhalb der Parteiprogramme.

Zuerst sollen beide Parteien losgelöst voneinander betrachtet und die Entwicklung der Programme von Labour und den Konservativen separat analysiert werden. In ihrem Manifest von 1966 ist bemerkenswert, dass Labour ausländische Güter als Gefahr erklärt und vor sinkenden Einkommen warnt. Dass ihr vordergründigstes Thema Wirtschaft und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind, steht dabei außer Frage. Dennoch unterstützt und fördert sie damit die Angst vor dem Fremden, weil sie den Anschein erzeugt, dass rein britische Erzeugnisse keine Gefahr für Löhne darstellen. Gleichzeitig respektiert Labour aber die unterschiedlichen Kulturen und Traditionen der Schotten und Waliser. Der Einwanderung aus Übersee werden dabei aber nur wenige Zeilen gewidmet. Für Einwanderung fordert sie die Fortführung von realistischen Kontrollen, die in Kombination mit einem Programm für racial equality die racial harmony verbessern sollen. Darüber hinaus wurde eine Kommission einberufen, die die gesetzliche Lage von Ausländern und Commonwealth-Bürgern nach der Möglichkeit der Abschiebung prüfen soll.

Vier Jahre später haben sich einige Punkte verändert. Zuerst fällt auf, dass sich das Thema race nun auch am Anfang eingefunden hat. Darin beschreibt Labour, dass die Gleichheit aller Bürger bewahrt werden müsse und keine Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Religion, race oder Hautfarbe geduldet werden könne. Dabei werden aber auch Einwanderer-Ghettos angesprochen, deren Entfaltung verhindert werden soll. Labour bemerkt, dass sich die Einwanderer vor allem in den alten und herabgekommenen Großstadtkernen niederlassen. Im Vergleich zum vorherigen Programm nehmen die race relations weniger Platz ein. Einwanderung soll weiterhin stark kontrolliert werden und niedriger als in den Jahren zuvor sein. Dadurch soll es möglich sein, den Fokus auf bessere race relations zu lenken. Dazu soll es ein spezielles urban programme geben, welches Stadtteile mit hohen Migrantenanteilen unterstützen soll. Der Race Relations Act habe den Ansporn zu Rassenhass in den Bereichen Wohnungssuche, Arbeitsplatz und Kreditaufnahmen entzogen.

Bei Labour ist zu erkennen, dass das Thema Einwanderung mehr Aufmerksamkeit bekommt und vor allem im sozialen und ökonomischen Bereich angegangen werden soll. Einwanderung soll weiterhin kontrolliert werden, wobei ausgelassen wird, ob damit auch weiße oder nur nicht-weiße Einwanderer gemeint sind. Die Möglichkeit nach der Abschiebung spielt im Wahlprogramm von 1970 keine Rolle mehr. Ein Einfluss, der vor der Furcht vor Kommunalisierung herrührt und sich für eine breite Rückführung der Einwanderer in die Heimatländer ausspricht, ist bei Labour also nicht ersichtlich.

Wenn man sich nun die Wahlprogramme der Konservativen in den Jahren 1966 und 1970  anschaut, ist eine ähnliche Entwicklung auszumachen. Die Konservativen nehmen 1966 die Einwanderungsfrage mit auf in ihr Programm der Sozialpolitik. Dabei soll es eine gerechte Behandlung von Einwanderern geben, die mit einer strikteren Einreiseregulierung gepaart wird. Allerdings wird im Laufe des Programms Einwanderung als Problem beschrieben, obwohl alle in Britannien lebenden Einwanderer mit Respekt als gleichwertige Bürger angesehen werden sollen. Ein Einreisesystem soll eingeführt werden, dass bei der Einreise die Dauer des Aufenthalts festlegen soll, um später eine dauerhafte oder zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Bei der Einreise sollen Einwanderer die Namen möglicher Einwanderer aus der Familie nennen, damit ihre Anzahl bekannt ist. Dabei soll die Anzahl der Familienangehörigen und deren mögliche Einwanderung Ausschlag für die Erlaubnis des Nachzuges sein. Einwanderer, die bereits in Britannien sind, sollen Hilfen erhalten, falls sie wieder ins Ursprungsland zu ihrer Familie oder mit der Familie wieder ins Heimatland zurückkehren wollen. Die Konservativen räumen Einwanderung weit aus mehr Wichtigkeit ein als Labour, obwohl das Manifest der Konservativen nur halb so lang ist. Inhaltlich ist es bereits ziemlich nah an den Forderungen von Powell.

Bevor auf das Wahlprogramm der Konservativen von 1970 eingegangen wird, soll ein kurzer Einschub gewährt werden, inwiefern sich Enoch Powells Rede aus dem Parteiprogramm bewegt hat, um etwaige Einflüsse seitens Powell aufzudecken. Denn ob er sich mit seiner Rede Mühe gab, innerhalb der Parteirichtlinien zu bleiben, wird kontrovers diskutiert. Der Fakt, dass die Tories in der Opposition waren, bedeutet zuallererst, dass die Maßnahmen im Bezug zur Einwanderung in keinem politischen Entscheidungsprozess eingeflossen sind, um in einem Kompromiss gegebenenfalls verändert zu werden. Bereits im Februar 1965 forderte Sir Alec Douglas-Home, Parteivorsitzender der Konservativen und ehemaliger Premierminister, in der Opposition, dass man für eine Zurückführung illegaler und legaler Einwanderer in ihre Heimatländer aktiv werben und die Anzahl der Einwanderer reduzieren müsse. Der Daily Express machte die Ähnlichkeit zwischen Heath und Powell deutlich, bildete aber einen Unterschied in der Rhetorik heraus. Aber nicht nur in der Rhetorik unterschieden sich Powell und die Parteipolitik der Tories: während Powell in seiner Rede von einer maximal großen Rückwanderung spricht, verfolgt die Konservative Partei unter Heath eine Unterstützung für Einwanderer, die auswandern wollen; ein Versprechen, welches 1971 eingelöst wird . Dadurch scheint die Möglichkeit der Einflussnahme sich nur auf den Feldern der Rhetorik und der maximal großen repatriation zu bewegen.

Im Vergleich zu Labour rücken auch die Konservativen Einwanderung vier Jahre später an den Anfang ihres Programms. Wie Labour wollen die Konservativen Rassenunruhen bekämpfen sowie Masseneinwanderung regulieren und eindämmen. Im Vergleich zum Manifest zuvor wird Einwanderung aber nicht mehr in der Überschrift als ein Problem tituliert. Im Abschnitt race relations and immigration werden vielmehr sozio-ökonomische Voraussetzungen als Schlüsselpunkte für die Verringerung der Rassenunruhen genannt. Nichtsdestotrotz werden auch bei den Konservativen die Probleme der Ghettoisierung, die Verarmung und der Zerfall der Innenstädte mit Einwanderung verbunden. Für die Einwanderung aus Übersee schlagen die Konservativen deshalb ein neues Einreisesystem vor. Es sei richtig für bereits eingewanderte Commonwealth-Bürger, die Familie auch nach Großbritannien zu holen. Aber in Zukunft werden Arbeitserlaubnisse nicht auch gleichzeitig permanente Niederlassungserlaubnisse für den Einwanderer und seine Familie bedeuten. Solche Genehmigungen sollen nur für spezielle Berufe in speziellen Regionen für eine begrenzte Zeit – normalerweise zwölf Monate – ausgestellt werden. Zusätzlich soll es Hilfe und Unterstützung für Einwanderer geben, die zurück in ihre Heimat wollen, aber niemand soll gegen seinen Willen gezwungen werden, Britannien zu verlassen.

Abschließend lässt sich feststellen, dass Powell keinen inhaltlichen Einfluss auf die Wahlprogramme von Labour und den Konservativen ausübte. Labour bleibt seiner Linie treu und erwähnt mit keinem Wort repatriation. Dieses Schlagwort ist bei den Konservativen bereits vor Powells Rede zu erkennen und wird 1970 fortgeführt. Was aber bei beiden Programmen auffällt, ist, dass 1970 Einwanderung eine größere Rolle spielt und Probleme rund um Einwanderung nun auch mit sozio-ökonomischen Aspekten verbunden werden und in diese Richtung bekämpft werden sollen . Ob dies ein alleiniger Verdienst der Rede von Enoch Powell ist, ist allerdings fragwürdig.

3.1.2. Einwanderungsgesetze von 1968 und 1971 sowie Political and Economical Planning Reports

Die Einwanderungsgesetze aus den Jahren 1968 und 1971 stehen in einer langen Reihe von Verordnungen und Debatten, die die strengere Reglementierung und Kontrolle von vorrangig nicht-weißen Einwanderern beinhalten. Mit dem British Nationality Act von 1948 und dem Europäischen Niederlassungsabkommen 1955, sowie den Immigration Acts von 1962, 1968 und 1971 wurde die Macht des Staates bezüglich Ausweisungsmöglichkeiten erweitert. Mit der einzigen Ausnahmen des Europäischen Niederlassungsabkommens, welches etwaigen Abzuschiebenden Rechte zur Gerichtsvertretung zusprach, dehnten die restlichen Beschlüsse die Möglichkeiten aus, Einwanderer auszuweisen. Insbesondere traf dies auf Bürger des Commonwealth – vor allem aus der Karibik – zu, die somit auf die Stufe eines Ausländers herab gestuft wurden. Der wichtigste Gradmesser, wer der Ausweisung ausgeliefert war und wer nicht, war das Merkmal der race. Dies wird im Beschluss von 1971 sichtbar, in dem das Aufenthaltsrecht für vorwiegend Weiße, sogenannte patrials gestattet, für vorwiegend Nicht-Weiße, sogenannte non-patrials untersagt wird.

Während Powells Einfluss auf die Wahlprogramme von Labour und Tories also eher gering war und der Commonwealth Immigrants Act von 1968 am 01.März vor Powells Rede beschlossen wurde, sind Parallelen in den Inhalten Powells und dem folgenden Immigration Act von 1971 erkennbar. So wurden schwarze Commonwealth-Bürger als genauso fremd angesehen, wie die restlichen Ausländer. Die britische Identität wurde enger um die britische Heimatinsel(n) gezogen und Verantwortlichkeiten rund um das Empire wurden unbeachtet gelassen. Der Immigration Act von 1971 ging insofern so weit wie möglich, als dass er die vorherigen Rechte der Commonwealth-Bürger deutlich einschränkte, z.B. beinhaltete der Beschluss, dass Commonwealth Bürger ab 1973 ausgewiesen werden konnten .

Allerdings steht der Immigration Act von 1971 in einer Linie mit vorhergehenden und nachfolgenden Beschlüssen, der damit in einer Reihe restriktiver Gesetzgebungen steht. Einen besonderen Einfluss Powells zu proklamieren, bleibt also problematisch .

Die Political and Economical Planning (PEP)-Reporte nehmen in aktuellen Forschungsdiskussionen eine wichtige Rolle ein, weil sie in vielen Fällen Orientierungspunkte für damalig zukünftige Entscheidungen eingenommen haben. Der PEP-Report aus dem April von 1967 stellte fest, dass es in vielen Bereichen variierende Formen von Diskriminierung gab. In den untersuchten Bereichen des Arbeitsplatzes, bei der Wohnungssuche und bei Dienstleistungen habe es allerdings große Unterschiede innerhalb der Einwanderergruppe gegeben, so dass davon ausgegangen werden kann, dass der Hauptgrund für Diskriminierung die Hautfarbe war. Ungarn und Zyprioten mussten dementsprechend wesentlich weniger unter Diskriminierung leiden als Asiaten bzw. Inder und vor allem dunkelhäutige Einwanderer aus der Karibik. Die These wurde aufgestellt, dass je unterschiedlicher eine Person in der äußeren Erscheinung war, desto höher war die Wahrscheinlichkeit und Intensität der Diskriminierung. Asiaten bzw. Inder waren im Gegensatz zu farbigen West Indies in einigen Berufsfeldern durchaus etabliert und angesehen, weshalb angenommen wurde, dass aufgrund der besseren Aufnahme der indischen bzw. asiatischen Einwanderer die zweite Generation dieser Einwanderergruppe mit weniger Diskriminierung konfrontiert werden wird. Die vorwiegend angetroffene Form der Diskriminierung bezog sich auf „rassische“ Merkmale, die sich meistens auf Minderheiten konzentrierte, die aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunftsland anders waren. Die Gründe für Diskriminierung reichten von nicht begründeter kompletter Ablehnung, gefühltem öffentlichen Druck bis hin zu der Behauptung, dass jene Einwanderer zu schlecht ausgebildet bzw. schlechte Mieter seien. Der Bericht weist daraufhin, dass diese Gründe auch Begründungen zum eigenen Schutz oder Lügen seien könnten, dennoch ergeben sich dadurch negative Auswirkungen. Derartige Stereotypisierungen verursachten Benachteiligungen aller nicht-weißen Bürger, weil es Einwanderer in separate Gruppen ausgrenzt und Parallelgesellschaften geschaffen werden. Darüber hinaus werden gut qualifizierte farbige Einwanderer aufgrund ihrer Hautfarbe für schlechter ausgebildet gehalten. Auf der anderen Seite existieren aber auch einige Berichte mit positiven Erfahrungen seitens weißer Arbeitgeber. In dem Bericht wird hervorgehoben, dass es in diesen Fällen möglich war, Vorurteile mit guten eigenen Erlebnissen zu beseitigen.

Die PEP-Berichte aus den Jahren 1972-75 setzen dennoch ein ähnlich gezeichnetes Bild fort. Weiterhin gibt es schlechte Berufe für nicht-weiße Arbeiter. Die Diskriminierung in ungelernten Berufen wurde bei 46% bemessen, wobei gelernte Berufe nur noch eine Diskriminierung von 20% ausmachten. Hauptgrund der Diskriminierung ist immer noch die Hautfarbe.

Der Einfluss Powells auf zukünftige Politik wird in der Forschung so beschrieben, dass Powell seinen Parteivorsitzenden mit seiner Rede dazu drängte, in der darauffolgenden Zeit eine striktere Einwanderungspolitik anzustreben und letztendlich auch durchzusetzen . Zu sehen ist dies in der detaillierteren Aufstellung, die es bei den Wahlen 1966 noch nicht gibt. Dass es zumindest nicht allein Powells Einfluss zu verdanken ist, dass die parteipolitische Linie genauer formuliert wurde, ist an den zahlreichen ideologisch vergleichbaren Parteikollegen Powells bei den Tories erkennbar. Anhand des Einwanderungsgesetzes von 1971 kann man diesen Punkt stützen, da dort die Einreisebestimmungen der nicht-weißen Einwanderer beschränkt wurden. Dadurch wurde eine homogenere britische Gesellschaft gekräftigt, während einer Kommunalisierung in den Augen Powells entgegengearbeitet wurde. Dennoch wurden Inhalte der Rede, wie z.B. eine Obergrenze für die Einreise von Familienangehörigen, abgelehnt.

Des Weiteren scheinen PEP-Reporte Einfluss ausgeübt haben, da in beiden Wahlprogrammen sozio-ökonomische Faktoren eine entscheidend wichtigere Rolle in den Wahlprogrammen von 1970 spielen. Jedoch wird auf Diskriminierung im alltäglichen Leben mit Diskriminierung im institutionellen Rahmen bei den Einwanderungsgesetzen geantwortet.

3.2. Auswirkung auf die Gesellschaft

3.2.1. Wahrnehmung der Parteien und Enoch Powells zum Thema Einwanderung

Eine Umfrage wenige Tage nach der Rede Powells fand heraus, dass 96% der Menschen von der Rede gehört oder gelesen hatten . Wie sich dieser Wert auf die Wahrnehmung der Parteien und deren Programme bezüglich Einwanderung ausgewirkt hat, soll im folgenden Kapitel analysiert werden. Dazu werden zwei Umfragen von Donley T. Studlar herangezogen, der zum einen vergleichende Analyse zu den wahrgenommenen Unterschieden im Bereich Einwanderung in den Wahljahren 1964, 1966 und 1970 getätigt hat . Die Wahrnehmung von Parteiunterschieden ist deshalb von Bedeutung, weil die Wählerschaft dadurch Vorstellungen der Parteien mit der eigenen vergleichen kann, um sich damit entweder zu identifizieren oder diese abzulehnen. Wenn sich aber keine Unterschiede auftun, dann kann sich kein Wahlverhalten auf Inhalte zurückführen lassen. Andererseits hat er eine langfristige Studie veröffentlicht, in der er untersuchte, inwiefern die öffentlich Meinung, die Einwandererfrage und Enoch Powell zueinander standen und sich gegenseitig tangierten.

Wie Studlar in seiner ersten Umfrage herausgefand, war die Wählerschaft gegenüber dem Thema Einwanderung in den Jahren 1964, 1966 und 1970 gleichbleibend verteilt eingestellt. Auch wenn sich die politischen Rahmenbedingungen änderten, veränderte sich die Einstellung gegenüber Einwanderung nicht. Einwanderung war wegen der Debatte um Enoch Powell als Thema am gegenwärtigsten im Wahlkampf von 1970. Die Politik der Siegerpartei 1970, der Konservativen, verfolgte aber eine Politik, die eher weniger der Befragten befürworteten. Wie in ihrem Wahlprogramm nachzulesen, unterstützte sie eine Einwanderung der engsten Familienangehörigen der bereits Eingewanderten und einiger Facharbeiter. Das Wahlprogramm von Labour und der Konservativen haben sich in diesem Punkt nicht unterschieden. Jedoch war die Wählerschaft stark gegen Einwanderung eingestellt. Da gleichzeitig über 75% der Öffentlichkeit eine Vorstellung von Powells Vorschlägen hatten, folgert Studlar, dass die Einstellung der Wählerschaft enger mit der Powells verbunden war als mit den Parteien. Da die Parteiunterschiede und deren Inhalte sehr gering waren, ist deshalb möglich, dass viele Wähler die Gedanken Powells mit den Inhalten der Konservativen vermischt und somit konservativ gewählt haben. Studlar geht auch auf eine Studie von Butler und Stokes ein, die für die Wahlen von 1964 und 1966 eine geringere Relevanz für das Thema Einwanderung ausgemacht haben. So gesehen waren die wahrgenommenen Parteiunterschiede in diesem Bereich auch gering. Deshalb barg das Thema Einwanderung in sich große Möglichkeiten, um das offensichtliche Gleichgewicht in der Einwandererfrage durch Profilierungsarbeit zu verändern. 1970 machten 57% der Befragten in der Butler und Stokes Studie die Konservativen als restriktivere Partei aus; der Unterschied zu Labour stieg von 14% aus 1966 auf beinahe 50% in 1970; im Gegenzug fiel die Anzahl der Menschen, die keinen Unterschied sahen, um 35%. Es gibt im Zusammenhang damit aber keine Verknüpfung zwischen der eigenen Haltung gegenüber Einwanderung und der Wahrnehmung der Parteiinhalte. Das bedeutet, dass eine Person, die gegen Einwanderung ist, diese Haltung nicht notwendigerweise auf die Konservativen projiziert. Personen, denen Einwanderung ein wichtiges Thema ist, sehen jedoch eher Unterschiede zwischen Labour und den Konservativen.

Studlar hat in seiner zweiten langfristigen Umfrage versucht, die Einwanderungsfrage und den Einfluss Enoch Powells zu identifizieren. Er bezieht sich dabei auf Gallup-Studien, die darstellen, dass es von 1959-72 ein homogenes Bild gab. Lediglich 1964 gibt es ein schwaches Bild für Einwanderung und 1968 gegen Einwanderung. Des Weiteren geben überwiegend mindestens 80% an, dass es in ihrem Bezirk keine Probleme mit Einwanderern gibt. Somit ist die Schlussfolgerung möglich, dass die britische Öffentlichkeit sich von den politischen Debatten und Entscheidungen nicht hat beeinflussen lassen, auch nicht von Powell.

Auf der anderen Seite erfahren all Beschlüsse zu Einwanderung (bis auf 1971 aufgrund der geringeren öffentlichen Bekanntmachung) breite Zustimmung. Von November 1961 bis September 1972 wird eine durchschnittliche Anerkennung von 69,5% erfasst. Inwiefern dann die weitere Radikalisierung Powells auf Zuspruch treffen konnte, bleibt schwer zu erklären. Die Zurückführung der Einwanderer in ihre Heimatländer stößt in den Jahren zwischen 1968 bis 1972 nämlich bereits auf weniger Unterstützung: durchschnittlich 56,6% positiv, 36,3% negativ. Bereits bevor Powells Rede gibt es Befürworter dieser Idee, somit muss der Einfluss Powells in Frage gestellt werden.

Auch wenn Powells Bekanntheit durch seine Rede stark zunahm und seine Inhalte bei weiten Teilen der Bevölkerung bekannt waren, zieht Studlar das Fazit, dass Powell nur einen sehr kurzfristigen Einfluss nach seiner Rede im April 1968 hatte. Bemerkenswert erscheint dennoch, dass viele Befragten keine schlechten Erfahrungen mit Einwanderung gemacht haben sollen, es aber eine breite Zustimmung unter den Befragten zu den Einwanderungsgesetzen gab. In diesem Punkt könnte u.a. ein Einfluss Powells liegen, der auch nicht nach seiner Birmingham-Rede von 1968 müde wurde, vor den Gefahren der Einwanderung zu warnen.

3.2.2. Reaktionen der Powell-Befürworter und Powell-Gegner

Nach der Rede erhielt Powell ca. 100.000 Briefe aus der Bevölkerung, die keinem eindeutigen sozialen Milieu zugerechnet werden können. Die Befürchtungen, die Powell in seiner Rede äußerte, können in den zugestellten Briefen oder Leserbriefen an die Times wiedergefunden werden . Angst durch Kommunalisierung eine Auflösung der demokratischen und britischen Kultur hervorzurufen oder Sorgen vor wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die durch Einwanderer als Arbeitnehmer resultierten , wie der Wille, sich mit Powell zu solidarisieren, um für das Recht der freien Meinungsäußerung zu kämpfen , sind ebenso wiederkehrende Bilder, wie Befürchtungen nach dem Empire nun auch das Vaterland auszuhändigen . Die Reaktion war nicht überall gleich, aber vor allem in den Midlands reagierten Arbeiter mit Protesten und forderten, dass farbige Menschen nicht in Branchen arbeiten sollten, die ihnen zuvor verschlossen waren. Die meisten der Demonstrationen wurden in Powells Wahlkreis abgehalten. Insgesamt nahmen bei den Demonstrationen in den drei Wochen nach der Rede 10-12.000 Personen teil. Rassistische Äußerungen werden allerdings vor allem auf allgemein schlechte soziale Verhältnisse und unsichere Beschäftigungsverhältnisse zurückgeführt. Jedoch waren Hafenarbeiter, die zu einem großen Teil bei den Streikaktionen mitgemacht haben, zu dieser Zeit in einem sicheren Beschäftigungsklima. Fred Lindop vermutet, dass die geschlossene Gemeinschaft der Hafenarbeiter ein Grund für die überproportional große Unterstützung Powells war, weil sie eher eine Gefahr durch Außenstehende sahen. Des Weiteren haben die Hafenarbeiter in den Jahren von 1945-70 zu den Industriezweigen gehört, die am häufigsten gestreikt haben. Somit wäre eine Affinität und Bereitschaft für Powell auf die Straße zu gehen vorhanden. Dennoch gab es in den folgenden Jahren (1969-74) mehrere politische Streikaktionen, die sich gegen wirtschaftliche Gegebenheiten in den Zeiten von Labour und Tory drehten. Einwanderung spielte bald keine Rolle mehr . In der Times werden auch die Gewerkschaften in das Blickfeld gerückt und spiegeln ein zweiseitiges Bild wider. In einem Artikel nach Powells Rede erklärt Dennis Herbert Harmston, warum er Powell als Gewerkschafter unterstützt, wobei auch seine Zugehörigkeit zu einer nationalistischen Partei erwähnt wird, die von Oswald Mosley gegründet wurde . Ebenso sind Gewerkschafter aber auch zu den Gegnern Powells zu zählen, die herausstellen, dass Powells Äußerungen zu Einwanderung in vielen Punkten gegen die Grundsätze der Gewerkschaften stehen .

Berichte vom Leitartikel bis hin zu veröffentlichten Leserbriefen in der Times äußern auch Unterstützung für Powells Ansichten. Diese beinhalten die Notwendigkeit von Einwanderungskontrollen, Obergrenzen für Einwanderer und repatriation. Viele haben auch Ängste vor Überbevölkerung sowie wirtschaftlichen und sozialen Nachteilen. Derartige Inhalte sind bereits vor Powells Rede zu lesen, werden aber danach in der Times eindeutig häufiger. Eine Suche nach „Enoch Powell AND immigration“ zeigt, dass Zeitungsartikel in der Times vor Powells Rede im Vergleich zum Zeitraum danach ungleich seltener erscheinen . Viele befürworten auch, dass Powell aufrichtig war, das Thema anzusprechen. Diese Gruppe pocht meist auf das Recht der freien Meinungsäußerung und protestieren gegen den Rauswurf aus Heaths Schattenkabinett .

Erfahrungen der einheimischen Bevölkerung mit Einwanderern werden in einer Umfrage aus dem Jahr 1970 dargelegt. Darin wird nach der Rezeption von Einwanderern bis 1968 gesagt, dass 37% der Befragten das Einwandererproblem im Vergleich zu persönlichen Problemen für nicht wichtig erachten. Eine ähnlich hohe Prozentzahl sagten, dass sie dieses Problem für gar nicht wichtig ansehen. Nur 9% äußerten, dass dies sehr wichtig sei. Innerhalb dieser Umfrage wurde auch ein besonderer Augenmerk auf fünf Einwanderergebiete gelegt, in denen besonders viele Menschen mit Migrationshintergrund hingezogen sind. Dort fanden 38% das Einwandererproblem für nicht wichtig, 30% gar nicht wichtig, 14% sehr wichtig und 18% ziemlich wichtig. Die beiden letzten Gruppen wurden gefragt, warum das Problem für sie wichtig oder ziemlich wichtig sei. 31% der Befragten äußerten Ängste über den Verfall der Region, 25% hatten Furcht vor Mischehe und 22% Furcht vor einer Mehrheit der Einwanderer in der Region. Diese Äußerungen unterstützen die These, dass die Ängste sich vor allem im sozio-kulturellen Bereich befinden .

Neben einer Gallup Umfrage existieren viele Berichte von farbigen Einwanderern oder Briten, die nach Powells Rede zum ersten Mal mit aggressivem Verhalten konfrontiert wurden . Auch wenn die meisten Demonstrationen friedlich verliefen, so gibt es zahlreiche Berichte , die bezeugen, dass es nach der Rede Powells vermehrt zu Übergriffen gegenüber der nicht-weißen Bevölkerung gekommen ist. Ironisch daran ist, dass Powell die Gefahr einer Überbevölkerung durch Einwanderer höher einschätzte, als mögliche Rassenunruhen aufgrund seiner Rede . Selbstverständlich waren die Verhältnisse in Großbritannien weit davon entfernt, „amerikanische Ausmaße“ anzunehmen, allerdings waren die Diskurse vergleichbar. Stuart Hall meinte dazu, dass Powells Erzählweise – eher als seine Wortwahl – annehmen lasse, dass es eine natürliche und unausweichliche Minderwertigkeit oder Unterlegenheit der nicht-weißen Bevölkerung gebe ; eine Sichtweise, die auch in der Times geteilt wurde . Inwiefern diese Ansicht auch zu Gewalttaten oder Beschimpfungen geführt hat, ist schwer zu deuten. In der Forschung gibt es eine zweigeteilte Meinung, ob Powell auch für Gewalttaten verantwortlich war. Auf der einen Seite sagte sich Powell immer von jeglicher Gewalt los und verneinte, ein Rassist im Sinne rassischer Diskriminierung oder Gewaltausübung zu sein. Auf der anderen Seite kann man sich in einer bereits aufgeheizten Situation nicht der Verantwortung entziehen, wenn man derartige Aussagen tätigt. Um also herauszufinden, ob eine potentiell-mögliche Beeinflussung, wenn auch nicht intendierte, vorhanden war, ist es sinnvoll einen genaueren Blick auf Powells Wortwahl zu wenden. Dazu ist es hilfreich, den Unterschied zwischen racism und racialism im englischen Gebrauch zu klären. Der Begriff racism steht für den Glauben, dass manche Menschen ethisch oder rassisch minderwertig sind, während racialism tendiert, die ungerechte Behandlung von nicht-weißen Menschen zu beinhalten. Powell wurde u.a. harsch kritisiert, weil er das abwertende Wort piccaninnies benutzte. Auch wenn Powell in dem Fall eine andere Person zitiert, markiert dies seine Rede als racist (rassistisch), weil er hier Personen mir negativ besetzten Merkmalen versieht und einer rassischen Minderwertigkeit gleichsetzt. Allerdings kann die Rede auch als racialist betrachtet werden, weil Powell einerseits fordert, nur nicht-weiße Personen von weiterer Einwanderung abzuhalten und er verkennt, dass vor allem nicht-weiße Personen der Diskriminierung ausgesetzt sind .

Dementsprechend ist eine Aufwiegelung einzelner, wenn auch weniger, Bevölkerungsteile zumindest theoretisch möglich. Dennoch erhielten Organisationen, die rassistische Gewalt proklamierten wenig Unterstützung. Selbst wirkmächtige Organisationen am rechten Flügel, wie die National Front, die in den späten 60er Jahren aus Greater British Movement, League of Empire Loyalists, British National Party und Racial Preservation Society gebildet wurde, hielt sich im politischen Spektrum auf und rief zu keiner rassischen Gewalt auf.

Auch wenn Rassismus und Diskriminierung durch Parteien am rechten Spektrum nicht aktiv propagiert wurden, so hilft ein Blick in den PEP-Report vom April 1967 dennoch weiter, um auf Diskriminierung hinzuweisen. Jener PEP-Report konzentrierte sich auf Diskriminierung und fand heraus, dass eine hohes Maß an Diskriminierung in vielen Bereichen des sozialen Lebens stattfand. Unter den untersuchten ethnischen Gruppen wurden Personen aus der Karibik zu 45%, Inder zu 35% und Pakistaner zu 34% diskriminiert. Dabei fiel folgendes auf: je höher die Bildung und besser die Fähigkeiten der englischen Sprache waren, desto mehr Diskriminierung trat auf.

Viele Gegner Powells kritisierten ihn nicht nur wegen seiner Rede, sondern auch wegen seiner Darstellungen und allgemeiner Sichtweise auf Einwanderung. Interessanterweise wurden in der Times mehrheitlich Powell-kritische Artikel inklusive Leserbriefe abgedruckt. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil die Times traditionell als konservativ angesehen wird und doch Powell in mehreren Artikeln scharf kritisiert . Dennoch hatte er gerade auch in den eigenen Reihen für viele Gegenstimmen gesorgt, die ihm falsche oder sogar bewusst verfälschende Daten vorwarfen oder mit Oswald Mosley vergliechen . Ein häufig geäußerter Kritikpunkt war auch die übermäßige Stereotypisierung, die vielen nicht-weißen Bürgern die Chance nahm, sich aus einem Umfeld geprägt von Diskriminierung und Vorurteilen heraus zu bewegen. Einerseits verhinderte dies einen sozialen Aufstieg, andererseits aber auch den Kontakt zur einheimischen Kultur, so dass eine Abgrenzung verstärkt werde.

Des Weiteren wird die Frage aufgeworfen, was unter Staatsangehörigkeit zu verstehen wäre, wenn Powell sagt, dass ein Einwandererkind, das in Großbritannien auf die Welt kommt, nicht automatisch auch Brite/Britin sei. Die Fragen, wer bei solchen Gegebenheiten zu entscheiden habe, wer britisch sei und wer nicht, wie lange man seine Herkunft nachweisen müsse, ob es nur eine Frage der Hautfarbe sei, würde umgehend zu Rassenhass führen und weist indirekt auf die Praktiken in Nazi-Deutschland und dem Ariernachweis hin.

Viele in der Times zu Wort kommenden Gegner weisen dabei auch aufgrund ihres akademischen Hintergrundes auf wissenschaftliche Inhalte zurück. Prof. Richard Rose, Universität von Strathclyde in Glasgow, bezog sich beispielsweise auf Umfragen, die belegten, dass große Teile der Bevölkerung einen gerechten Umgang mit Einwanderern wünschten. Außerdem zeigten die Umfragen auch, dass Politik und Presse diesem Thema mehr Bedeutung widmeten, als dies in der Bevölkerung geschah. Diejenigen, die glaubten für die leidtragenden Briten zu sprechen, seien nur eine unrepräsentative Minderheit . Ebenfalls werden die PEP-Berichte zitiert oder Inhalte dessen angesprochen, wie z.B. die ungleiche Verteilung des Wohlstandes oder die generelle Wichtigkeit der sozio-ökonomischen Vorraussetzungen .

In den Artikeln der Times sind die Reaktionen der in Powells Rede adressierten Einwanderer überwiegend mit denen der übrigen Kritiker vergleichbar. Wie zuvor dargestellt, waren viele Gruppierungen einheimischer weißer Briten trotz diskriminierender Darstellungen nicht gewillt, sich zu rassistischen oder gewalttätigen Handlungen hinreißen zu lassen. Diese Radikalisierung auf Seiten der Einwanderer fand in den Darstellungen der Times ebenfalls nicht statt. Führende Einwandererorganisationen sprachen sich für friedliche Mittel aus, die den Weg des demokratischen Systems wählten, um für die eigenen Rechte zu kämpfen . So kritisieren Diplomaten aus Jamaica, Trinidad und Tobago sowie Guyana und Barbados Powell für seine einseitige Kampagne gegen Einwanderer aus der Karibik. Er verleugne den Beitrag, den Einwanderer für die Wirtschaft und Sozialsysteme nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet haben, sowie den Beitrag während des Kriegs, als Briten und Bürger der Karibik Seite an Seite kämpften .

Neben dem Beitrag der vergangenen Jahrzehnte für die britische Wirtschaft wird die Zurückführung einer großen Anzahl von Einwanderern immer wieder als Gefahr für die britische Wirtschaft gesehen. Im Gegensatz zu den Stimmen, die Einwanderer als eine Gefahr für die Wirtschaft sehen, wird in anderen Berichten dargelegt, dass Einwanderer auch eine Verbindung zu ihrer Heimat aufrecht erhalten und damit Großbritannien wichtige Absatzmärkte erhalten bleiben . Ein weiterer Bericht wirft außerdem einen kritischen Blick auf die Darstellung, dass Einwanderer vor allem Geld kosten würden. Als Gegenbeispiel wird Deutschland herangezogen, welches u.a. durch die Gastarbeiter ein Wirtschaftswunder verzeichnen konnte. Die Studie Economic Impact of Commonwealth Immigration für das National Institute of Economic and Social Research kommt dabei zum Ergebnis, dass es keinen Abfall der einheimischen Lebensstandards gebe, sondern sich die Lebensstandards wohl eher verbesserten. Nichtsdestotrotz muss Geld investiert werden, um die Lebensstandards der Einwanderer auf die der Einheimischen zu bekommen .

Eine weitere häufig dargestellte Gruppe, die Powell kritisierte, ist die anglikanische Kirche. Neben dem Bischof von Stepney ist es auch Domherr Collins der St. Paul‘s Cathedral, der nicht nur Powells einseitige Darstellung der „Fakten“ und die Darstellung der Einwanderer als Sündenbock für zahlreiche anders geartete Probleme moniert, sondern Enoch Powell auch mit Adolf Hitler vergleicht .

Abschließend lässt sich für den Einfluss Powells auf den gesellschaftlich-öffentlichen Bereich folgendes Bild zeichnen. Wenn die wirtschaftliche Lage Großbritanniens mit der potentiellen Aggressivität gegenüber nicht-weißen Personen in Verbindung gebracht wird, scheint klar zu werden, dass viele Ressentiments aufgrund von ökonomischen Schwierigkeiten entstehen. Ist die Wirtschaftslage gut, stellen Einwanderer keine Probleme dar; steigt die Arbeitslosigkeit, so werden Einwanderer dafür (mit-)verantwortlich gemacht. Dadurch werden Widersprüche erzeugt, die u.a. Bereiche wie den Wohnungsmarkt erfassen. Durch Diskriminierung im Wohnungsmarkt hatten es Einwanderer schwer, gute Unterkünfte zu finden, so dass eine „Bedrohung“ für Einheimische im Wohnungsmarkt nur gering war . Dennoch ist eine breite Basis vorhanden, die sich gegen derartige Vorstellungen zur Wehr setzt und mit Mitteln des demokratisch-institutionellen Raumes gegen Stereotypisierungen und Diskriminierung vorgeht.

4. Schlussfolgerung

In der Einleitung wird erwähnt, dass es zwei Lager gab, die sich hinter Powell stellten oder gegen Powell argumentierten. Auf der einen Seite wurde Powell dafür gehasst, dass er eine emotionale Sprache verwendete und damit Übergriffe auf farbige Bürger mit verantwortete. Auf der anderen Seite wurde er dafür bewundert, dass er seine Meinung über parteipolitische Linien hinweg äußerte.

Gerade letzterer Punkt muss nach den vorliegenden Erkenntnissen revidiert werden. Es steht außer Frage, dass das Recht auf Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist, das es zu verteidigen gilt. Genauso steht es aber außer Frage, dass eine Partei es nicht dulden kann, wenn es eine Person in ihren Reihen gibt, die rassistische Diskurse nutzt, um auf eigentlich soziale und ökonomische Probleme aufmerksam zu machen.

Auf die Parteien und deren Wahlprogramme von 1970 hat er, wenn dies ihm überhaupt anrechenbar sein kann, einen Einfluss ausgeübt, der diese mehr auf sozio-ökonomische Faktoren hat aufmerksam werden lassen. Ein Einfluss der genauso gut den PEP-Berichten gutgeschrieben werden kann. Auch wenn die Times feststellt, dass ein Diskurswechsel von Integration zu repatriation stattgefunden hat , so konnte herausgestellt werden, dass diese Gedanken auch schon vor Powell geäußert wurden.

Dennoch werfen die Einwanderungsgesetze ein ambivalentes Licht auf diese Tatsachen. Das Einwanderungsgesetz steht in einer Linie mit restriktiven Regulierungen und Einschränkungen. Diese richten sich aber überwiegend gegen nicht-weiße Personen und klammern weiße Bürger aus. Eine Parallele zu Powells Befürchtungen vor Kommunalisierung und der Wichtigkeit einer homogenen britischen Gesellschaft kann hier nicht abgesprochen werden.

Auf diese Gesellschaft hat Powell ohne jeglichen Zweifel gewirkt. Die hohe Bekanntheit und mediale Auseinandersetzung mit seiner Rede waren enorm. Nichtsdestotrotz war das (unterschwellig) wichtigere Thema Wirtschaft und die Lösung der Unterkunftsfrage. Powells Einfluss war dementsprechend nur kurzweilig und bekräftigt die Rolle der Medien als Diskursgestalter .

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Die englische Frauenbewegung während des Ersten Weltkrieges

Der erste Weltkrieg war der erste Krieg, der mit Waffen geführt wurde, die eine Massenvernichtung ermöglichten. In den Gräben starben Millionen Menschen. Größtenteils Männer. Doch wie wirkte sich dies an der Heimatfront aus? Was bedeutete das für die englische Frauenbewegung?

1. Einleitung

Dass man sich von seinen Genen nicht emanzipieren kann , ist zwar im Kontext der Evolutionsbiologie von Darwin hergeleitet, jedoch wurden solche oder ähnliche Aussagen über Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft häufig geäußert. Dass (be-)herrschende Patriarchat, das die Machtverhältnisse unangetastet lassen wollte, wurde allerdings ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts vermehrt durch feministische Organisationen bekämpft. Jene Organisationen stellten aber keine einheitliche Front dar, die gemeinsame Ziele und Aktionen planten. Auf der einen Seite gab es Vereine, die friedlich und auf kooperative Weise versuchten, die Stellung der Frau in der englischen Gesellschaft zu verbessern. Auf der anderen Seite jedoch waren auch Organisationen vorhanden – allen voran die Women’s Social and Political Union – , die radikale und militante Vorgehensweisen vorgezogen haben. Auch waren die Intentionen der unterschiedlichen Parteien nicht einheitlich. Während Fraktionen das Wahlrecht für Frauen unumgänglich fanden, war für andere wichtiger, dass Frauen der Zugang zu Bildung und Arbeit geöffnet werden sollte. Diese Arbeit soll den letzteren Ansatz verfolgen und klären, inwiefern Veränderungen durch den Zugang der Frauen zu Beschäftigung vonstatten gegangen sind. Dabei beschränkt sie sich auf die Arbeitsbereiche Landwirtschaft, Krankenschwestern und Fabrikarbeiterinnen während des Ersten Weltkrieges und soll sich auf mögliche Veränderungen im Gebiet der familiären Rollenverteilung und der Arbeitsbedingungen spezialisieren.

2. Männer an die Front, Frauen an die Arbeit

Die Zeit, in der Frauen die Berufe der Männer aufgrund des Krieges verrichteten, ist nicht nur durch den Ersten Weltkrieg geprägt, sondern ebenso von der langsamen Auflösung der traditionellen Geschlechterrollen. Frauen begannen bereits in der viktorianischen Zeit, eine Gleichberechtigung voran zu treiben. Dementsprechend führte ein steter Aktionismus der feministischen Bewegung teilweise zu Erfolgen. Jedoch sahen sich die Suffragetten und andere feministische Kreise ebenfalls einer entschlossenen und vor allem mächtigen männlichen Opposition konfrontiert.

Frauen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg arbeiteten, wurden zum größten Teil im häuslichen Bereich beschäftigt. Für andere Berufszweige, die körperlich anstrengender waren, wurden zum Teil Verbesserungen vorgenommen, um die Arbeit weniger beschwerlich zu machen. So wurde beispielsweise 1833 Frauen die Arbeit unter Tage verboten. 1842 wurde für Frauen und Kinder in der Textilindustrie eine tägliche Arbeitszeitbeschränkung von zehn Stunden beschlossen. 1867 wurde dieser Beschluss auf alle Fabriken mit mehr als 50 Beschäftigten ausgedehnt . Diese Vorgaben führten allerdings dazu, dass viele Arbeitgeber nicht mehr gewillt waren, Frauen einzustellen.

In der Entwicklung der Beschäftigung für Frauen in den Kriegsjahren gab es drei Stufen: 1. Die Ausbreitung der Frauen in angestammten Berufen, wie z.B. Textil- und Bekleidungsindustrie; 2. Die Ablösung der Männer in ihren Berufen durch Frauen, damit die Männer an der Front kämpfen konnten; 3. Die Konzentrierung von Frauen in neu errichteten Munitionsfabriken der Regierung . Bei Kriegsausbruch wurden Frauen also aufgrund der Kriegswirtschaft und den fehlenden männlichen Arbeitskräften vermehrt für Tätigkeiten eingesetzt, die zuvor den Männern vorbehalten waren. Im Jahr 1911 arbeiteten ca. 1,4 Millionen Frauen im privaten Hausgewerbe, wobei im Laufe des Krieges ungefähr 400.000 Frauen in andere Branchen abwanderten. Insgesamt arbeiteten von 1914 bis 1918 792.000 Frauen in der Industrie. Dadurch dass Frauen zur kriegswichtigen Produktion benötigt wurden, wurde mit frauenspezifischen Rollen und Erwartungen aufgeräumt . Trotz aufgeweichter Geschlechterrollen wurden kaum emanzipatorische Effekte erzielt. So war es weiterhin die Ausnahme, den Frauen das gleiche Gehalt auszuzahlen wie den Männern, was vor allem in den Munitionsfabriken zu sehen sein wird. Bevor jener Beschäftigungsboom aber aufgetreten war, herrschte nach dem Kriegsausbruch zuerst eine große Arbeitslosigkeit und die Industriezweige, die vor dem Krieg vor allem Frauen beschäftigt hatten, traf es besonders hart . Die durchschnittliche Preiserhöhung bei den Lebenserhaltungskosten betrug 30%, wohingegen die meisten Gehälter schrumpften; lediglich kriegswichtige Industriezweige bezahlten ihren Arbeitern im Kriegsverlauf einen höheren Lohn. Ebenso zwang die wirtschaftliche Krise vom Jahre 1914 viele Männer zum Kriegsdienst, da ihre Einkünfte und Ersparnisse mit der ansteigenden Inflation nicht mehr standhalten konnten. Somit wurden auf der einen Seite Arbeitsplätze frei, die zu schlecht bezahlt waren, um die Wirtschaftskrise abzufedern. Auf der anderen Seite besteht auch die Möglichkeit, dass arbeitslose Männer erst durch den Kriegsdienst in Lohn und Brot kamen. Ersteres deutet allerdings darauf hin, dass Frauen, die jene Arbeitsplätze einnahmen, nicht in der Lage waren, sich selber unabhängig zu finanzieren, sondern weiterhin auf Unterstützung angewiesen waren.

Wie sehr die Arbeitswelt von der weiblichen Sphäre immer noch getrennt war, erkennt man an einem Zitat aus folgendem Zeitungsartikel: „Rose Lowe, among others, ‚did not even know what jobs there were in that great big world outside her world’“ . Dieses nicht vorhandene Wissen über eine Welt außerhalb der Welt dieser jungen Dame macht deutlich, dass es für eine Gruppe von Frauen keinen Zugang zu der Welt außerhalb ihrer häuslichen Tätigkeiten gab. Die Einstellung der Feministinnen, dass man für eine Gleichberechtigung in sämtlichen Bereichen kämpfen müsste, war somit keine Einstellung, die unbedingt in jeder Frau fest verankert war. Viele empfanden gar nicht das Verlangen, an dem traditionellen Rollenmuster zu rütteln.

Auf der anderen Seite gab es aber auch viele Organisationen der Frauenbewegung, die die Unabhängigkeit und Ungleichberechtigung ändern wollten. In der ILP (Independent Labour Party) – eine Vorreiterin der radikal-feministischen WSPU (Women’s Social and Political Union) –  gab es bereits bedeutende weibliche Mitglieder, die allerdings nicht aus der Arbeiterklasse emporstiegen. Diese Tatsache stellte ein Problem dar, welches in der traditionsreichen Klassengesellschaft Englands lag. Während Frauen aus der Arbeiterklasse in der Regel im Haushalt tätig waren und somit dem klassischen Frauenbild entsprachen, hatten die Frauen des Mittelstandes die Möglichkeit, sich mit anderen Dingen, wie Kunst und Muße zu beschäftigen. Wenn Frauen der Arbeiterklasse die Zeit und Möglichkeit fanden, sich nicht nur dem Haushalt zu widmen, sondern auch anderen Tätigkeiten, so setzte spätestens die Geburt eines Kindes dem ein Ende. Dementsprechend war die Frauenbewegung keine einheitliche, gemeinsame Angelegenheit, weil der Unterschied der Klassen dazu führte, dass Mittel- und Oberschichtsfrauen ein Wahlrecht forderten, wie es zu jener Zeit vorhanden war. Dieses war an Besitz und Einkommen gekoppelt, was die Arbeiterfrauen und arbeitslose Frauen ausschloss .

Dennoch wurden sich viele Frauen mit der Zeit selbst bewusst, dass die Unterordnung unter der Männerwelt ungerechtfertigt war. Dadurch dass sie während der Kriegsjahre dieselbe Arbeit wie die Männer machten und diese noch nicht einmal schlechter , wurde die Ungerechtigkeit der weiblichen Unterdrückung erkennbar. Dementsprechend konnte auch ein Zuwachs an weiblichen Gewerkschaftsmitgliedern verzeichnet werden. Die ersten standes- und geschlechterübergreifenden Demonstrationen traten 1915 im schottischen Clydeside auf. Bei den Demonstrationen konnten die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter durchgesetzt werden, die sich für geringere Mieten einsetzten. Ihre Machtstellung bestand darin, dass die Politiker die Waffenproduktion gefährdet sahen, wenn sie die Bedingungen nicht erfüllten. Weitere emanzipatorische Gedanken sollten mit der Zeit entstehen. So forderten Frauen, dass die Gewerkschaften der Männer auch Frauen zulassen sollten; ebenso sollten die Frauen, die nun die Männerarbeit machten, die gleichen Löhne bekommen; außerdem sollten Frauen die Möglichkeit erhalten, eine Industrieausbildung zu absolvieren. 

Bei den Verdiensten und den Bildungschancen gab es große Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Frauen verdienten bei weitem weniger als die männlichen Arbeiter: der Unterschied betrug häufig 50%. Außerdem lagen die Arbeitszeiten nicht selten bei 18 Stunden am Tag, um auf einen Lohn zu kommen, der die nötigsten Bedürfnisse abdecken sollte . Die Bildungsmisere war bereits in der viktorianischen Ära ein Thema und es gab Bestrebungen, jenen Zustand zu verbessern. Einige betrachteten die Verbesserung der Bildung in Verbindung zu einem Wahlrecht, das bis dato der männlichen, besitzenden Bevölkerung vorbehalten war. Bis 1914 waren die Universitäten Oxford und Cambridge die einzigen höheren Bildungseinrichtungen, die Frauen den Zugang zu höheren Positionen verwehrte .

Somit forderten viele Frauen mehr Möglichkeiten, sich von den Einkommen der Männer und anderen Abhängigkeiten zu befreien. Eine Forderung war die Empfängnisverhütung und die damit verbundene Möglichkeit der Kontrolle einer eventuellen Schwangerschaft. Eng verknüpft mit dem Thema der Empfängnisverhütung waren auch andere Themen, die Kontroversen in der englischen Gesellschaft auslösten. So wurden Fragen nach einer gemeinsamen Verantwortung für das häusliche Leben gestellt, wohingegen Gegner in Frage stellten, wozu dies nützen sollte und wozu Frauen sich überhaupt organisieren müssten . Je mehr Frauen während des Krieges in den Fabriken gebraucht wurden, desto konkretere Forderungen wurden auch für ihre Arbeitsbedingungen gestellt. Für Mütter, die arbeitstätig waren, sollten Möglichkeiten geschaffen werden, ihre Kinder zu beaufsichtigen und zu versorgen. Aufgrund der Überlegung, dass Frauenarbeit von Vorteil sein kann, vor allem wenn sie einen Lohn erhalten, der es ihnen ermöglicht ausreichend Nahrung zu erhalten, führte zu folgenden Vorschlägen: 1.) Es soll einen gleichen Mindestlohn für Männer und Frauen geben. 2.) Wie bereits zuvor verlangt, soll es für beide Geschlechter den gleichen Lohn für dieselbe geleistete Arbeit geben. 3.) Es soll kein vorherrschendes Recht der Männer auf irgendeine Beschäftigung geben. 4.) Der Staat soll für die Versorgung und Fürsorge der Kinder sorgen. 5.) Ebenso soll der Staat für die Älteren, Gebrechlichen und Kranken sorgen, weil es nicht wünschenswert ist, wenn diese auf private Unterstützung angewiesen sind .

Allgemein war die Haltung gegenüber Frauenarbeit allerdings nicht positiv. Frauen seien aufgrund ihrer physischen und psychischen Konstitution für gewisse Tätigkeiten besser und für andere weniger genug geeignet gewesen. So wurden sie vor Ausbruch des Krieges weniger für körperlich anstrengende Arbeiten eingesetzt, als für Beschäftigungen, die sich im häuslichen und familiären Raum abspielten. Im Bezug auf ihre psychischen Gegebenheiten war man der Auffassung, dass sie gegen Mobbing, Partnerwechsel und Obszönitäten kein oder wenig Unbehagen hegen würden. Ihre körperliche Gesundheit andererseits wurde als wichtiger als die des Mannes angesehen, da die Frau körperlich fit sein müsse, um Kinder zu gebären. Deshalb wurden Frauen von den Minentätigkeiten abgezogen, wodurch sie allerdings die gut bezahlten Positionen verloren und keine oder nur unterbezahlte Frauenarbeit übrig blieb .

Während der Kriegsjahre stellte sich allmählich eine dezidiertere Haltung gegenüber Frauenarbeit ein . So wurden Meinungen über eine allgemeine Untauglichkeit der Frauen am Arbeitsplatz durch praktische Beispiele verdrängt. Lediglich Unerfahrenheit und Unvorsichtigkeit, die jedoch auch bei Männern vorkamen, stellten ein Risiko dar . Ein Grund dafür, dass der Zustand der Arbeitsverteilung, der während des Krieges herrschte, nach dem Krieg nicht fortgesetzt wurde, lag anscheinend in den Vorurteilen der Männer, Industriellen und Arbeitern. Die Rolle der Frauen, obwohl sie sich als gute Arbeiterinnen herausstellten, wurde weiterhin auf die Rolle der Hausfrau und Mutter beschränkt .

Im Folgenden werden drei Beschäftigungsfelder im Zusammenhang mit möglichen emanzipatorischen Effekten und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen näher betrachtet. Dabei liegt der Fokus auf Frauenarbeit in der Landwirtschaft, als Krankenschwester und in den Munitionsfabriken, um potenzielle Veränderungen und tatsächliche Neuerungen zu untersuchen.

3.1. Frauenarbeit in der Landwirtschaft

Generell standen sich beide Sphären Stadt und Land konträr gegenüber. Unter anderem weil die ländlichen Regionen wirtschaftlich schwächer waren, stand es in Opposition zu den wirtschaftlichen stärkeren Gegenden in den meist größeren Städten. Zudem verdienten die Arbeiterinnen auf dem Land sehr wenig und blieben in ihrem gewohnten Arbeitsbereich. Somit waren emanzipatorische Effekte von vorneherein sehr schwierig zu erzielen, da die nötigen finanziellen Mittel und Horizonterweiterungen fehlten, einerseits um sich finanziell abzunabeln und andererseits zu erkennen, dass Frauen eine ebenso wichtige Rolle in der Wirtschaft spielen können wie die Männer. Positive Aspekte, die mit der Ländlichkeit verbunden wurden, waren ein Gefühl nach Heimat, Frieden und Regeneration. Auf der anderen Seite stand das Land aber auch für Rückständigkeit, Ignoranz und Stillstand. Frauen, die sich den Verhältnissen auf dem Land annahmen, prangerten jene Rückständigkeit häufig an. Manche verlangten, dass Frauen auf dem Land erst einmal lernen müssten, sich um sich selbst zu kümmern und dabei von niemandem bevormundet zu werden. Weiterhin sollte die Bildung, Wasserversorgung und Krankenversorgung verbessert werden .

Im Gegensatz zu anderen Beschäftigungsfeldern war die Feldarbeit somit in der Landwirtschaft nicht hoch angesehen. Hinzu kam, dass durch neue Beschäftigungsmöglichkeiten in der Industrie eine große Konkurrenz geschaffen wurde, wo in der Regel ein höheres Gehalt möglich war. Allerdings wurde England aufgrund der Seeblockade der deutschen Marine dazu gezwungen, sich weitestgehend selbst zu versorgen und gegenüber Importen unabhängiger zu werden. So musste mit der Zeit mehr Aufmerksamkeit auf die Agrarwirtschaft und Lebensmittelproduktion gelenkt werden. Trotzdem wurde den Feldarbeitern aber kein höherer Lohn ausgezahlt . Obwohl sich also an der traditionellen Rollenverteilung auf dem Lande nicht viel verändert hat, sind die Geburten- und Heiratsraten dort tendenziell niedriger als in wirtschaftlich starken Regionen .

Daher ist hier eine sich widersprechende Entwicklung erkennbar. Während auf dem Land kaum Aktionen gegen die traditionelle Rollenverteilung abgehalten wurden, deutet die niedrige Geburten- und Heiratsrate darauf hin, dass verständlicherweise aufgrund der schlechten Wirtschaftslage zuerst die eigene Versorgung mit den nötigsten Bedürfnissen sichergestellt wurde. Des Weiteren bedeutet dies, dass eine bessere und ausreichende finanzielle Lage der Frauen in eine höhere Geburten- und Heiratsrate resultieren würde, was vor allem in den wirtschaftlich starken Regionen zu beobachten ist. Diese Entwicklung lässt vermuten, dass die anhaltende und fortschreitende Industrialisierung mit ein Grund ist, warum sich Frauen erst emanzipieren konnten, weil das Bewusstsein für eine Gleichberechtigung und finanzielle Grundlagen für eine Unabhängigkeit geschaffen werden konnten.

3.2. Frauen als Krankenschwestern an den Kriegsschauplätzen

Generell ist der Dienst als Krankenschwester eine von wenigen Möglichkeiten gewesen, sich aktiv am Krieg zu beteiligen und einen Beitrag an diesem zu leisten. Der Wille war unter der weiblichen Bevölkerung durchaus vorhanden, sich am Kriegsgeschehen zu beteiligen, so dass es im Kriegsverlauf sogar weibliche Soldaten gab, die allerdings mit Argwohn und Abneigung behandelt wurden . Frauen, die am Krieg durch Sanitätsdienst teilnehmen wollten, wurden von der englischen Armee anfangs ebenfalls brüsk abgewiesen, so dass nur der Weg über das Rote Kreuz, Order of St. John oder dem VAD (Voluntary Aid Detachment) übrig blieb. Der VAD, der erst im Laufe des Krieges ins Leben gerufen wurde, war eine Organisation des Militärs und es war für die Frauen des VADs äußerst wichtig, den Abläufen der Armee Folge zu leisten.

Die Frauen, die sich auf diese Weise engagierten, wurden durch die strenge hierarchische Struktur nicht nur in ihrem Rollenverhalten als fürsorgliche Mutter belassen; ebenfalls wurde diese Rezeption bewusst genutzt, um damit Propaganda zu machen. Das Bild der Frauen vom Roten Kreuz wurde dementsprechend mit Mut, Schönheit, Ernsthaftigkeit, Effizienz, aber auch Freude und Heil für die verwundeten Soldaten verbunden, um vor allem Propaganda für die Heimatfront zu machen. Mehrere Poster und Flyer zeigen, dass die Rolle der Frau außerdem zu einer der Heiligen, Maria-ähnlichen Frau stilisiert wurde. So erhielt die Weiblichkeit nicht nur eine enorme Religiosität, sondern auch eine Fokussierung auf die fürsorgliche Mutterrolle, die sich um die Kinder zu Hause oder um die Soldaten an der Front kümmern sollte. Dass die Frau in der Gesellschaft propagandistisch als Heroin und Übermutter dargestellt wurde, diente unter anderem der Motivation für die Soldaten, damit sie wussten, dass sie für das Vaterland und deren Bevölkerung kämpften.

Nichtsdestotrotz wurden die Frauen dadurch zum ersten Mal auch als kriegswichtige Faktoren wahrgenommen. Auch wenn dieses Bewusstsein mehr mit Ausnutzung zu tun hatte und niemand plante, den Krankenschwestern durch ihren Dienst gleiche Rechte zu verschaffen, so kann man zumindest von Berührungspunkten zwischen männlichen Sphären – den Kriegsschauplätzen – und Frauen sprechen. Jedoch arbeiteten die meisten Organisationen auf freiwilliger Basis, was bedeutete, dass nur die Frauen sich engagieren konnten, die die finanziellen Mittel dazu besaßen. Die Krankenschwestern der VAD bestanden hauptsächlich aus Frauen der Mittel- und Oberschicht, da die Offiziellen der VAD dachten, dass England am besten durch sie und nicht durch die Arbeiterfrauen repräsentiert werden würden .

Zwar spielen die Krankenschwestern während des Krieges eine wichtige Rolle, jedoch zeigen einige Faktoren, dass die Geschlechterrollen sich während des Krieges durch den Dienst als Krankenschwester nicht sonderlich geändert haben. Vielmehr wurde die Rolle der Frau für den Krieg benutzt und ihr Aktionsradius ausgeweitet. Eine Gleichberechtigung konnte somit unter den Krankenschwestern des VAD und auch des Roten Kreuzes nicht erzielt werden.

3.3. Frauen in den Munitionsfabriken

Zum Vergleich zu den positiven und negativen Attributen des Landes gab es auch Charakteristika, die man dem Stadtleben zugeschrieben hat. Das negative Bild wurde mit der Entartung der Moral, Schmutz und Zerfall verbunden. Auf der positiven Seite sah man Fortschritt, intellektuelle Errungenschaften und sozial-politische Herausforderungen.

Dem gegenüber stehen Zahlen, die belegen, dass die Rollenverteilung im Bereich der Familie durch wirtschaftliche Stärke gestützt wurde, so dass weder von Fortschritt noch von Entartung der Moral gesprochen werden kann. Für Frauen im Alter von 20 bis 24, die in einem Gebiet wohnten, in dem Kohle abgebaut wurde, bestand eine erhöhte Möglichkeit zu heiraten und Kinder zu bekommen. Ein ähnlicher Effekt ist in Gegenden feststellbar, in denen Fabriken vorhanden sind . Männer arbeiteten, während Frauen kaum Arbeit fanden, sondern sich um den Haushalt und die Kinder kümmerten, von denen es in diesen Gebieten überdurchschnittlich viele gab .

Dieser Effekt kehrte sich allerdings schnell um, als die Männer in den Fabriken in den Kriegsdienst berufen wurden und die Frauen die Arbeitsplätze der Männer übernehmen mussten. Ab Sommer 1915 war der Bedarf an Munition stark angestiegen, wobei männliche Arbeiter seltener wurden, da diese an der Front gebraucht wurden. Somit war für den weiteren Kriegsverlauf kaum eine andere Möglichkeit vorhanden, als Frauen in den Munitionsfabriken einzustellen. Diese Initiative wurde von der Regierung initiiert und mit den Gewerkschaften ausgehandelt, so dass Frauen und junge Männer an Maschinen arbeiten durften, an denen zuvor nur erwachsene Männer gearbeitet hatten. Jedoch war diese Maßnahme lediglich für die Zeit des Krieges beschränkt. Mit der Zeit breitete sich der Einfluss der Regierung mehr und mehr aus, so dass bis zum Sommer 1915 die Regierung bis zu 20.000 Munitionsfabriken kontrollierte und für die Zeit des Krieges das Recht auf Streik aussetzte. Darüber hinaus war sie auch für die Ausbildung und Gesundheit der dort Beschäftigten verantwortlich. Ab Oktober 1915 wurde zudem die Ausbildungsphase verkürzt und die Arbeitgeber wurden von der Regierung angewiesen vermehrt auf weibliche Arbeitskräfte zu setzen. Im Juli 1915 waren 121.000 Frauen in Regierungsarbeit oder Kriegsarbeit beschäftigt. Drei Jahre später, im Juli 1918, stieg diese Zahl bis auf 534.000 Frauen an. Dadurch war erst die Wehrpflicht vom Januar 1916 möglich und die Knappheit an Munition konnte bis zur Mitte 1916 behoben werden. Trotz dieser immens wichtigen Rolle, die die Frauen zur Kriegsproduktion beitrugen, war die Rolle der Frauen in der Gesellschaft immer noch die der Hausfrau und Mutter.

Die Entwicklung der Beschäftigung in den Fabriken war Folgende: anfangs wurden gelernte Kräfte für den Kriegsdienst herangezogen, so dass die Arbeiter, die zuvor unter diesen arbeiteten deren Plätze einnahmen und Frauen wiederum die einfachen Arbeiten übernahmen. Diese Entwicklung setzte sich bis 1918 fort, so dass auch Frauen in den mittleren Beschäftigungen eingesetzt wurden. Durch diese allmähliche Weiterbildung und Verbreitung der arbeitenden Frauen wurde das Argument der ungelernten Frauenarbeit eigentlich entkräftet . Schlussendlich wurden ca. 1 Millionen Frauen in Fabriken beschäftigt, von denen ca. 700.000 Männer an den Arbeitsplätzen ersetzten.

Für den Kriegsverlauf und die Produktion von kriegswichtiger Ware wurden jedoch auch mit der Zeit die arbeitstechnischen Verbesserungen und Beschränkungen der Arbeitszeit fallen gelassen und weniger beachtet. So waren sanitäre Anlagen häufig nicht für beide Geschlechter ausgestattet, Klimaanlagen sorgten nicht für eine angemessene Belüftung und Kantinen waren entweder zu klein oder gar nicht erst vorhanden . Dadurch litten einige Frauen mit zunehmender Belastung an physischen und psychischen Verschleißerscheinungen, so dass einige ihre Arbeit aufgeben mussten. Die Industriearbeiterinnen verdienten dadurch zwar mehr Geld, mussten dafür aber gefährlichere Tätigkeiten ausüben. Allerdings brachten die neuen Beschäftigungsfelder erstmals für eine breite Masse an Frauen die Möglichkeit, finanziell unabhängig zu werden und einen wichtigen Faktor im Wirtschaftsalltag zu spielen . Dass viele privat geführte Unternehmen aber weiterhin Bedenken gegenüber der Einstellung weiblicher Arbeiter hatten wird deutlich, indem man sich anschaut, dass bis Oktober 1916 der Anstieg in privaten Unternehmen nur 36 % an Arbeiterinnen betrug, während in staatlich geführten Unternehmen ein Anstieg um 300 %  zu verzeichnen war .

Barbara Drake, die während des Ersten Weltkrieges eine der wenigen weiblichen Fabrikkontrolleurinnen war, war an zwei großen Untersuchungen in den Kriegsjahren beteiligt. Sie stellte unter anderem fest, dass geringe Löhne für Frauen auch in geringen Löhnen für die Männer resultierten und somit Männer der Arbeiterschicht ebenso ausgenommen werden würden. Deshalb schlug die Frauenrechtlerin Clementina Black vor, dass diese Arbeiterinnen und Arbeiter höhere Gehälter bekommen sollten. Jene Arbeit wäre nicht nur eine mögliche Unabhängigkeit für Frauen, sondern auch für Männer, die kaum genug Geld verdienten, um ihren Lebensunterhalt zu decken. Ebenfalls dachte sie darüber nach, dass sich Frauen der Arbeiterklasse und der Mittelschicht zusammen finden sollten, damit gemeinsame Aktionen in beiderlei Interesse durchgeführt werden könnten . Es gab auch erste emanzipatorische Erfolge im Zusammenhang mit gewerkschaftlichen Aktionen. Beispielsweise konnte die Amalgamated Society of Engineers erreichen, dass Frauen den gleichen Lohn für ihre Arbeit wie die Männer erhielten. Jedoch war dieser Tarifvertrag nur für die Zeit des Krieges beschränkt und wurde dementsprechend bei der Rückkehr der Männer von der Front aufgehoben. Dadurch dass in den Fabriken Frauen verschiedenster Herkunft und Schicht arbeiteten, wurden ebenso die Unterschiede, Konflikte und Differenzen der englischen Klassengesellschaft zumindest in den Fabriken teilweise ausgeblendet .

Dass dies allerdings die Ausnahme war, sieht man an den Beschlüssen der Regierung mit den Gewerkschaften, die zum größten Teil die Interessen der Arbeiter vertraten und die Arbeiterinnen vernachlässigten. Das Treasury Agreement von 1915 sollte dabei vor allem garantieren, dass die Gehälter für die Arbeiter, die nach dem Krieg wieder an ihre alten Arbeitsplätze zurückkehrten, nicht zu niedrig ausfiel, dadurch dass viele Frauen nun ihre Arbeit verrichteten. Dennoch wurde der „männliche“ Lohn für die Arbeiterinnen nicht beibehalten, sondern erhielten die Frauen meistens das Gehalt, welches für jugendliche Arbeiter vorgesehen war. Dadurch und wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten kam es zu großer Unzufriedenheit. Organisationen der Frauenbewegung und Gewerkschaften forderten dementsprechend, dass Frauen in der Munitionserzeugung über 18 Jahren nicht weniger als 1 £ in der Woche und eine ordentliche Ausbildung erhalten sollten; ebenso lautete eine Forderung, dass für Arbeitsplätze nach dem Krieg gesorgt werden sollte. Jedoch wurden diese Forderungen nicht oder nur halbherzig umgesetzt. So dauerte es bis Februar 1916, dass Gehälter auf Beschluss der Regierung angeglichen werden sollten, was allerdings von Gewerkschaften zurückgewiesen wurde, da ihrer Meinung nach Frauen aufgrund besonderer Überwachung und Beaufsichtigung bedurften. Auch deshalb war die Meinung weit verbreitet, dass Frauen unabhängig von ihrer Arbeit weniger verdienen sollten .

Auch die Hierarchie der englischen Klassengesellschaft spiegelte sich in der Unternehmensstruktur wieder. So waren Frauen aus der Arbeiterklasse größtenteils auch ungelernte Arbeiterinnen, wohingegen Frauen aus der Mittel- und Oberschicht Beschäftigungen, wie z.B. als Aufseherin oder Werkmeisterin, übernahmen. Obwohl diese Arbeiten nicht körperlich anstrengten, sondern eher eine Frage des Status waren, bekamen diese „Arbeiterinnen“ wesentlich mehr Geld als die Frauen an den Maschinen.

Das Argument, dass Frauen für spezielle Tätigkeiten ungeeignet waren, da ihnen das nötige Know-how fehlte, war in manchen Bereichen durchaus vertretbar. Allerdings beachteten viele, die dieses Argument benutzten, nicht, dass sich mit der Zeit Industriezweige entwickelten, die standardisierte Herstellungsverfahren verwendeten, die für den Massenmarkt produziert wurden. Gerade dort fanden viele Frauen während des Krieges Arbeitsplätze, die jedoch nach dem Krieg zum größten Teil wieder von Männern eingenommen wurden . Jedoch wurden auch viele arbeitstechnische Verbesserungen für eine schnellere und reibungslosere Produktion außer Kraft gesetzt und höhere Lohnforderungen wurden nur schleppend in die Tat umgesetzt.

4. Schlussfolgerung

Die Betrachtung der Frauen, die während des Krieges auf dem Land oder als Krankenschwester tätig waren, hat gezeigt, dass innerhalb dieser Arbeitsplätze kaum mehr Gleichberechtigung und Unabhängigkeit erzielt werden konnte. Fabrikarbeiterinnen hatten dahingegen die finanziellen Möglichkeiten und die nötigen Argumente, um jene Ziele zu erreichen. Allerdings zwängte die Notlage des Landes, welche durch den Krieg gegeben war, die Feministinnen in ein Gerüst, das wenig Spielraum für Demonstrationen und Forderungen während des Krieges übrig ließ. Deshalb wurden häufig Schritte rückwärts gegangen und nur widerspenstig Fortschritte durchgebracht. Als der Krieg vorbei war und die Männer von der Front heimkehrten, wurden die meisten Frauen von ihren Arbeitsplätzen verdrängt und den Männern wieder übergeben. Lediglich ihre angestammten Arbeitsplätze im häuslichen Sektor und in der Landwirtschaft, die sie bereits vor dem Krieg innehatten, blieben übrig . Der Restoration of Pre-War Practices Act regelte die – wie der Name bereits deutlich sagt – Zurückführung der Beschäftigungsverhältnisse, wie sie vor dem Krieg vorhanden waren.

Nach dem Krieg herrschte jedoch eine brisante und explosive Stimmung in der englischen Gesellschaft, so dass viele Reformen und Gesetzte verabschiedet wurden, um Revolten zuvor zu kommen . Die Frauen erhielten in diesem Zuge auch allmählich mehr Privilegien, bis im Jahre 1928 das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde. Insofern kann das Zitat „In the historiography of the First World War women’s work is presented as revolutionary in potential but conservative in impact“ durchaus unterstützt werden.
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